«Gendermedizin ist keine Frauenmedizin»
Mit Kardiologin Cathérine Gebhard kam eine der führenden Schweizer Wissenschafterinnen der Gendermedizin ans KSB. Im Interview erklärt sie, warum Genderaspekte in der klinischen Forschung oft vernachlässigt werden und bei welchen Erkrankungen Frauen oder Männer benachteiligt sind.
Cathérine Gebhard, schlagen Frauenherzen anders?
Das tun sie tatsächlich. Was den Herzmuskel angeht, entwickelt dieser sich mit dem Alter bei Frauen und Männern unterschiedlich. Frauenherzen reagieren sensibler auf Stress und werden beispielsweise im Alter eher kleiner und schlagen schneller, wohingegen Männerherzen sich mit dem Alter eher vergrössern. Diese Unterschiede wirken sich natürlich auf die Entstehung und Therapie von Herzkrankheiten aus. Im klinischen Alltag berücksichtigt man diese aber kaum. Bei Frauen kommt es deshalb öfter zu diagnostischen Ungenauigkeiten. Erkrankungen werden später erkannt als bei Männern. Insgesamt kann man sagen, dass diese kleinen Unterschiede recht grosse Auswirkungen haben.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist weiblich, Gleichberechtigung ist in aller Munde. Warum gilt dennoch der Mann als Prototyp der Medizin?
Es ist leider in der Medizin so, dass der junge männliche Körper als Norm gilt und die meisten Forschungsergebnisse an Männern und männlichen Tieren erhoben werden. Auch werden nur etwa fünf Prozent der Zell-Experimente an weiblichen Zellen durchgeführt. Die Unterrepräsentation von Frauen in der Forschung ist auch im 21. Jahrhundert ein grosses Problem.
Weshalb sind Frauen denn so stark untervertreten?
Bei den Studien hat dies historische Gründe: So hat man nach dem Contergan-Skandal Anfang der 1960er-Jahre ungeborenes Leben schützen wollen. Auch wurde fälschlicherweise davon ausgegangen, dass viele Krankheiten, wie der Herzinfarkt, typische Männerkrankheiten sind, was nicht stimmt. Zudem wurde angenommen, dass Frauen aufgrund ihres Hormonzyklus eine höhere Variabilität in Studien einbringen. Deshalb wurden Frauen in klinischen Studien, aber auch in der Grundlagenforschung kaum untersucht, und es fehlen entsprechend Daten über Krankheitsmanifestation und Effizienz von Therapien im weiblichen Organismus. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass Frauen weniger oft als Männer bereit sind, an einer Studie teilzunehmen. Es ist daher wichtig, die Gründe zu untersuchen, die eine Studienteilnahme von Frauen erschweren.
Der Contergan-Skandal
Anfang der 1960er-Jahre kamen immer mehr Kinder mit fehlenden oder verkrüppelten Gliedmassen zur Welt. Zudem litten die Babys an Nervenschäden, Fehlbildungen an den Ohren und den inneren Organen. Diese Missbildungen traten plötzlich stark gehäuft auf. Einigen Ärzten kam das seltsam vor, und sie begannen, die Mütter der betroffenen Kinder zu untersuchen. Es stellte sich heraus: Die Mütter hatten während ihrer Schwangerschaft ein neuartiges Schlafmittel zu sich genommen – das vermeintlich ungefährliche Contergan. Es folgte ein Prozess, nach insgesamt vier Jahren wurde das Medikament vom Markt genommen. Weltweit schädigte die Arznei über zehntausend Kinder.
Deshalb wählt man auch heute noch in der Grundlagenforschung zu 90 Prozent männliche Tiere aus?
Es ist teurer, wenn man beide Geschlechter untersucht. Auch geht man bei der Grundlagenforschung davon aus, dass dies aufgrund des Hormonzyklus bei weiblichen Tieren schwieriger sei. Diese Annahme wurde aber schon widerlegt. Durch dieses Versäumnis gehen bereits in einem frühen Stadium der Forschung wichtige Erkenntnisse verloren. Bedenklich ist, dass der Geschlecht-Bias zulasten der weiblichen Tiere in den letzten Jahren noch zugenommen hat. Die Gründe hierfür sind unklar.
Welche Folgen hat dieses Vorgehen?
Die Folge dieser Praxis ist schon lange bekannt: Die Kinetik der Medikamente ist im weiblichen Organismus nur lückenhaft erfasst, obwohl man weiss, dass sich der Abbau im weiblichen Organismus deutlich unterscheidet. Dies aufgrund von Geschlechtsunterschieden bei der Nierenfunktion, bei Fett-, Wasser- und Muskelanteil. Aus diesen Gründen treten unerwünschte Nebenwirkungen bei Frauen 1,5- bis 2-mal häufiger auf als bei Männern. Dementsprechend zeigte eine kürzlich veröffentlichte Studie, dass die Sterblichkeit bei Frauen mit Herzinsuffizienz sinkt, wenn sie eine geringere Dosis mancher herzwirksamen Medikamente nehmen.
Die Frauen sind also in der Medizin in der Opferrolle?
Nein, das kann man so nicht sagen. Gendermedizin ist keine Frauenmedizin, sondern untersucht vielmehr die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Deshalb widmet sie sich vor allem jenen Gruppierungen, die bislang benachteiligt wurden. So ist die Osteoporose beim Mann eines der am meisten vernachlässigten Krankheitsbilder Europas. Weil Osteoporose als typische Frauenkrankheit gesehen wird und Diagnostik und Therapie auf eine weibliche Population abgestimmt sind, wird die Erkrankung bei Männern unterdiagnostiziert und/oder nicht adäquat behandelt. Dies steht im deutlichen Gegensatz zum erheblichen Frakturrisiko, das bei Männern infolge des Knochenschwunds auftritt. Auch werden Essstörungen beispielsweise als typische Frauenkrankheit angesehen. Dabei sind bis zu 25 Prozent der Erkrankten männlich. Hierzu gibt es aber kaum Daten, und auch die Therapien sind auf Mädchen und Frauen ausgerichtet.
Wie kommt es, dass Sie nun ein 25-Prozent-Pensum am KSB antreten?
Am KSB habe ich meine medizinische Laufbahn von 2007 bis 2009 als Assistenzärztin in der Inneren Medizin begonnen und habe hier sehr viel Unterstützung erfahren. Ich wusste schon immer, dass ich gerne ans KSB zurückkehren möchte. Denn hier habe ich eine extrem lehrreiche Zeit erlebt, und das angenehme Betriebs- und Arbeitsklima hat mich schon damals beeindruckt. Zudem freue ich mich auch, dass so viele bekannte Gesichter von früher immer noch hier arbeiten. Das spricht sehr für das KSB. Denn wenn Mitarbeitende so lange an einem Arbeitsort bleiben, scheinen sie sich dort wohlzufühlen. Momentan ist es mir nur möglich, eine 25-Prozent-Stelle anzutreten, weil ich noch eine SNF-Professur an der Universität Zürich habe und dort ein Forschungsteam leite.
Werden Sie am KSB ausschliesslich Patientinnen mit kardiovaskulären Beschwerden behandeln?
Ich werde in der Kardiologie tätig sein. Und dort behandle ich keineswegs nur Frauen (lacht), ich behandle gern auch die Männer. Beides unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Unterschiede.
Wodurch wurde ursprünglich Ihr Interesse an der Gendermedizin geweckt?
Vor zehn Jahren hat mich mein damaliger Chef in der Echokardiografie darauf aufmerksam gemacht, dass die Herzen älterer Frauen stärker pumpten. Dies haben wir daraufhin systematisch in einer Studie untersucht, und wir wurden bestätigt. Seitdem hat mich das Thema fasziniert. Ich habe die Entwicklung des weiblichen Herzens im Alter noch weiter untersucht und viele Unterschiede gefunden, die bislang keine Berücksichtigung in den Leitlinien und der klinischen Routine gefunden hatten.
Inwiefern fehlen die Aspekte der Gendermedizin in der bisherigen Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte?
Wir arbeiten derzeit intensiv daran, dass Gendermedizin verstärkt auch ins medizinische Curriculum aufgenommen wird. Zudem wird im März 2021 ein erster Weiterbildungsstudiengang (CAS) in Gendermedizin starten, den wir für medizinisches Personal und Forschende anbieten. Dieser sollte eigentlich schon im letzten Frühjahr beginnen, musste jedoch wegen Corona um ein Jahr verschoben werden.
Welche Inhalte vermitteln Sie im neuen CAS?
In insgesamt elf Modulen werden geschlechtsspezifische Aspekte in den unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen, aber auch allfällige Forschungslücken und ihre Konsequenzen im klinischen Alltag gelehrt. Wir hoffen, dass wir mit dem CAS vor allem Leute ansprechen, die bereits im Gesundheitswesen tätig sind, wie zum Beispiel niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Kolleginnen und Kollegen in den Spitälern, Pflegepersonal und die Industrie. Unser Hauptziel ist, dass den Geschlechtsunterschieden in der klinischen Routine mehr Beachtung geschenkt wird, sodass jeder Mann und jede Frau die entsprechende personalisierte und evidenzbasierte Therapie erhält.
Kardiologie am KSB
Macht Ihnen das Herz zu schaffen? Die Expertinnen und Experten der Kardiologie am KSB helfen Ihnen gerne weiter – und haben dabei die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Blick.
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