Epilepsie bei Kindern: Das Gewitter im Kopf
Charlène guckt Löcher in die Luft. Immer häufiger. Ist die Achtjährige bloss verträumt, oder steckt mehr dahinter? Und wie findet man das heraus? Lesen Sie, wie sich Epilepsie bei Kindern äussert, wann sie gefährlich wird und was ein EEG zur Diagnose beiträgt.
Es passiert während der Schulstunde, beim Mittagessen und selbst, wenn man mit ihr spricht. Charlènes Augen blicken plötzlich ins Leere, sie scheint in sich versunken, hört nicht zu. Eine typische Tagträumerin, denken die Eltern der Achtjährigen. Bis sie einen Anruf von Charlènes Lehrerin bekommen. Sie hat einen Verdacht. Das Mädchen ist in der Schule so häufig geistig abwesend, dass sie empfiehlt, die Ursachen zu klären. Sie vereinbaren einen Termin bei der Kinderärztin – und wissen bald mehr: Als sie ihr Charlènes Symptome schildern, vermutet die Ärztin eine Epilepsie.
Die Eltern verstehen die Welt nicht mehr: Ihre Tochter hat doch nie einen richtigen Anfall gehabt. Die Pädiaterin klärt sie auf. Gewisse Formen der Erkrankung, etwa die Absencen-Epilepsie, zeigen sich nicht in Anfällen mit Zuckungen der Arme und Schaum vor dem Mund, sondern subtiler: mit Abwesenheitsmomenten, die Sekunden andauern und bis zu hundert Mal täglich auftreten können.
Tagebuch führen, um die Symptome zu verstehen
Ob dies bei Charlène der Fall ist, gilt es herauszufinden. Die Kinderärztin untersucht das Mädchen und stellt nichts Auffälliges fest. Jedenfalls nicht im Moment. Sie bittet die Eltern daher, ein Tagebuch zu führen: In welchen Situationen treten die Episoden auf, wie äussern sie sich? Auch Uhrzeit und Dauer sollen sie notieren.
Was ist Epilepsie, und wie äussert sie sich bei Kindern?
Bei einem epileptischen Anfall sind Nervenzellen im Gehirn gleichzeitig übermässig und chaotisch aktiv. Es entsteht eine Art «Gewitter» im Kopf. Körperlich äussert sich dies unterschiedlich: Das Spektrum reicht von tonisch-klonischen Anfällen, bei dem sich der Körper versteift und rhythmisch zuckt, bis hin zu Absencen. Über ein Drittel der Epilepsien beginnen im Kindesalter; sie können schon Neugeborene betreffen, treten aber meist bei Kleinkindern und im Schulalter erstmals auf. Von Epilepsie spricht man, wenn ein Patient wiederholt epileptische Anfälle hat.
Die Tagebucheinträge der Eltern sind nicht eindeutig: Sie widerlegen den Verdacht auf eine Absencen-Epilepsie nicht, beweisen aber auch nichts. Die Kinderärztin überweist Charlène an das Kantonsspital Baden für eine Elektroenzephalographie (EEG). In der neuropädiatrischen Sprechstunde werden Experten die Hirnströme des Mädchens aufzeichnen. Bevor der zuständige Neuropädiater David Wille dies tut, gibt er oft Entwarnung: «Ob Augenverdrehen, komische Bewegungen oder Abwesenheitsmomente: Was speziell aussieht, ist oft eine Normvariante, ungefährlich und weitaus häufiger als eine Epilepsie.»
90 Prozent der Verdachtsfälle erweisen sich zum Beispiel als Tagträumereien. Sein Tipp: «Sprechen und fassen Sie das Kind in einem Abwesenheitsmoment an. Wenn es nicht reagiert und seine Abwesenheitsmomente sich häufen, ist ein EEG angezeigt.» Die Eltern probieren es aus, und tatsächlich: Charlène reagiert auf Berührungen nicht. Sie bekommt einen Termin am KSB.
So läuft ein EEG bei Kindern ab
- Das Kind begibt sich in ein spezielles EEG-Zimmer.
- Die Elektroden werden mit einer Klebepaste auf der Kopfhaut befestigt. Das dauert etwa 30 Minuten und tut überhaupt nicht weh.
- Die Aufzeichnung der Hirnströme nimmt weitere 30 Minuten in Anspruch. Während des EEG muss sich der kleine Patient so ruhig wie möglich verhalten, um die Messresultate nicht zu verfälschen. Selten ist ein Schlaf-EEG notwendig, dann dauert das EEG länger. Bei einer Absencen-Epilepsie kann häufig durch eine Provokation wie Hyperventilation eine Absence ausgelöst werden.
- Zuletzt ist Haarewaschen angesagt.
Das EEG ist eine Momentaufnahme
Was man in ihrem Kopf messe, will Charlène wissen. Neuropädiater David Wille erklärt es so einfach wie möglich: «Wir messen die Aktivität deiner Hirnrinde, der äussersten Schicht deines Gehirns. Falls du eine Epilepsie hast, würden wir dort Anzeichen dafür finden – vielleicht.» Die Sache ist die: Ist das Elektroenzephalogramm auffällig, dann beweist es, dass Charlène Epilepsie hat. Ist es jedoch unauffällig, schliesst es sie nicht aus – vielleicht hat man das EEG bloss zum «falschen» Zeitpunkt gemacht. Wille: «Ein Kind kann auch eine Epilepsie mit mehreren normalen EEGs haben.»
Epilepsie bei Kindern: So handeln Sie richtig
«Ein tonisch-klonischer Anfall ist auch für uns Ärzte eindrücklich», sagt David Wille. Deshalb kann er gut verstehen, dass Väter und Mütter beim ersten Mal oft wie gelähmt sind. Dabei ist Erste Hilfe gerade dann wichtig. Das müssen Sie tun, wenn Ihr Kind einen ersten Anfall hat:
Schwimmen und Velofahren werden zum Risiko
Tatsächlich zeigt Charlènes EEG Auffälligkeiten, die für eine Absencen-Epilepsie des Schulalters sprechen. Sie ist im Alltag immer häufiger abwesend und hat dadurch Mühe, dem Schulunterricht zu folgen. Auch Velofahren und Schwimmen werden zum Risiko, denn wenn das Mädchen in dieser Zeit eine Absence hat, ist das Unfallrisiko erhöht.
Epilepsie bei Kindern: David Willes Antworten auf FAQ
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David Wille, woher kommen Epilepsien?
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In den meisten Fällen bleibt die Ursache unklar. Wenn doch, kommen verschiedene Ursachen in Frage: zum Beispiel eine kleine Blutung im Gehirn, die eine Narbe hinterlässt, Stoffwechselerkrankungen oder Genveränderungen. Bei Jugendlichen mit der entsprechenden Veranlagung können Schlafentzug und Alkoholkonsum epileptische Anfälle auslösen. Dann spricht man von einer juvenilen Epilepsie mit tonisch-klonischen Anfällen.
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Es gibt zahlreiche Formen von Epilepsien. Welche ziehen Folgeschäden nach sich?
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Kurze Anfälle hinterlassen gewöhnlich keinen Schaden im Gehirn. Grund zur Sorge besteht, wenn die Anfälle sehr lange andauern, wie etwa bei einem Status epilepticus. Nicht verpassen darf man eine Blitz-Nick-Salaam-Epilepsie (BNS-Epilepsie). Dabei zucken die Kinder mit den Armen und nicken in rhythmischen Abständen. Die Anfälle wiederholen sich in nahezu gleichen Abständen und dauern Sekunden bis Minuten. Diese spezielle Epilepsie des Säuglingsalters muss man zeitnah abklären und medikamentös behandeln.
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Was sollen Eltern tun, wenn sie einen Verdacht auf Epilepsie haben?
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Sie sollten ihren Nachwuchs während eines mutmasslichen epileptischen Anfalls filmen und das Video dem betreuenden Kinderarzt zeigen. Oft lässt sich dadurch schon sagen, ob es sich um einen epileptischen Anfall handelt. In vielen Fällen erübrigt sich dann eine aufwendige Diagnostik.
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Wie sieht ein EEG bei Epilepsie aus?
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Häufig finden sich epilepsietypische Zeichen. Oft zeigt sich ein buntes Bild von Normvarianten, die man nicht falsch interpretieren und «überdiagnostizieren» darf. Gelegentlich ist ein EEG auch bei einer Epilepsie normal.
Bei Diagnose einer Absencen-Epilepsie rät David Wille zu einer medikamentösen Therapie. Das Mädchen muss täglich Tabletten oder einen Sirup nehmen. Die Medikamente beruhigen das Chaos in ihrem Kopf. Kehren die Anfälle nicht wieder und ist das EEG normal, kann sie das Medikament nach zwei Jahren absetzen. Bleibt Charlènes Zustand danach stabil, hat sich ihre Epilepsie ausgewachsen.
Neuropädiatrie am KSB
Wirkt Ihr Kind häufig abwesend? Haben Sie Auffälligkeiten im Bewusstsein oder unwillkürliche Zuckungen beobachtet, und hat Sie dies verunsichert? Spezialisten für Neuropädiatrie klären ab, ob es sich dabei um Epilepsie handelt. Ist ein EEG nötig, übernimmt dies Susanna Gräub, eine pädiatrisch sehr erfahrene Fachfrau für neurophysiologische Diagnostik.
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